Unding Diagnostik
>>Diese Art der Diagnostik mag ich nicht<< - das dachte ich mir, als ich unlängst über Fachbücher schaute, die hier schon länger leben. Mit Dieser Art
meine ich Diagnostik, die in Schubladen stopft. Zugegeben, das tu ich hiermit auch - die Schublade Diese Art
- und vlt kommt man auch nicht ganz von los, von Schubladen.
Schaue ich in die regulären Fachbücher zu Tier-, im Besonderen Hundeverhalten, wird sich gerne einer Diagnostik und Klassifikation bedient, die ursächlich, oder zielorientiert klassifiziert, oder sich anderer Begriffe bedient. Damit meine ich, dass zB von maternaler Aggression
die Rede ist, oder von Angstaggression
, oder von statusbedingter Aggression
die Rede ist. In den Namen der Klassen enthalten sind die mutmasslichen oder tatsächlichen Ziele, oder Gründe, oder die Weltanschauung dahinter.
Selbst in der somatischen Welt scheint mir das wenig hilfreich. Wenn ich mir vorstelle, jemand kommt zu mir und erwähnt, er habe Diabetes, also die Zuckerkrankheit. Was soll mir dies sagen? Diese Klasse sagt mir aus, dass mit der Speicheldrüse ein Problem besteht, genauer den Inselzellen und der Insulinproduktion. So unschön so gut. Was es mir nicht verrät, ist zB ob schon Organe wie die Augen oder Füsse betroffen sind, ob mit der Umstellung der Ernährung Abhilfe geschaffen werden kann, ob die Krankheit nur für eine bestimmte Zeit vorliegt (zB während der Schwangerschaft), und vieles mehr.
Mein Eindruck ist, dass der Erkenntnisgewinn nicht sehr hoch ist, mit so einer Diagnose, so einer Zuordnung zu einer bestimmten Klasse. So verrät mir zwar die Zuteilung maternale Aggression
dass es sich um ein weibliches Tier handelt, oder ein Zwitter, und dass es mit der Verteidigung von Nachwuchs zu tun haben soll. Was es mir nicht verrät ist, ob es Unterschiede zu vertrauten Personen bzw zwischen verschiedenen Personen und Geschlechtern bzw Altersklassen gibt (zB Kinder oder Ältere nicht bedroht werden, oder nur männliche Menschen bedroht werden), ob es sich um Aggressionsverhalten gegen Menschen handelt, oder gegen andere Hunde oder Tiere, wie stark das ausgeprägt ist, und vielen anderen Fragen mehr.
Dazu kommt, dass man sich im Kreis dreht mit solchen Diagnosen. Wird ein Hund mit zB Dominanzaggression ausgeschildert, und zeigt der Hund zB wenn man ihm Futter wegnehmen will Aggressionsverhalten oder knurrt wenn man ihn beim Schlafen stört, kann man argumentieren dass das der Beweis ist für die Richtigkeit der Diagnose: Der Hund verhält sich dominant-aggressiv, daher ist er dominant-aggressiv einzuschätzen, und dass das stimmt zeigt sich daran, dass er sich so verhält. Ein Selbstläufer. Eine Methode die in der Psychoanalyse und der Psychiatrie auch gerne verwendet wird: Der Konflikt/die Störung sind unbewusst/ich-synton (der Kranke merkt nichts, fühlt sich nicht von seiner Krankheit gestört), dass es dem Kranken also gar nicht auffällt dass er gestört ist, ergo ist er schwer gestört, da er den Bezug zur Realität verlor.
Am Ende hat man den Kranken im Griff, doch verstanden hat man relativ wenig. Daher mag ich diese Herangehensweise nicht. Persönlich bevorzuge ich eine funktionelle Diagnostik. Eine Disziplin die das Rüstzeug dazu liefert, ist die Funktionelle Verhaltensanalyse. Vorallem im angelsächsischen Raum verbreitet, basiert diese Methode auf der Lerntheorie, also der Untersuchung von Lernen. Das Atom, also der Grundbaustein, ist das ABC, es ist ein Akronym und steht für: Antecedent, Behaviour, Consequences.
Diese drei Buchstaben durchleuchten das Leben und Werden des Gegenüber. Die antezedenten Bedingungen reichen von den Faktoren die das zu unteresuchende Verhalten, Target Behaviour, wahrscheinlicher bzw unwahrscheinlicher machen, die auslösenden oder hemmenden Faktoren, bis zu den Lebensbedingungen und der persönlichen Geschichte und Vorerkrankungen und Belastungen.
Das Behaviour zielt auf das beobachtbare Verhalten ab und seiner möglichst objektiven Beschreibung. Was genau wird wie lange gezeigt, wie lange dauert es nach dem der Auslöser auftrat. Auf dieses Target Behaviour folgen Konsequenzen. Konsequenzen die nicht direkt in Verbindung zum Verhalten stehen wie ein Knallgeräusch, oder Futter das herunterfiel, aber auch Konsequenzen die in Verbindung zum Verhalten stehen.
Es werden die funktionalen Beziehungen untersucht, die mit dem Target Behaviour in Beziehung stehen. So könnte in einer Analyse das Ergebnis kommen,
- dass der junge Hund aus Frust heraus bellte als der Besitzerin den Nudelsalat ins Esszimmer trug, dieser dann so erschrack dass sie diesen fallen liess, was das Verhalten verstärkte und aufrecht erhielt.
- dass der Hund interessante Stellen sah oder roch, deswegen in diese Richtung zog an der Leine, die Besitzer nachgab und so der Hund Erfolg hatte und das Ziehen an der Leine gefördert wurde.
- dass nach einer Operation an den Keimdrüsen die Sexualhormone verschoben wurden, sich dadurch eine Unsicherheit aufbaute im Hund und der Hund sich bei einer Gelegenheit erschrack, der Besitzerin den Hund bestrafte, der Hund weiters unsicher wurde und das Bellen häufiger zeigte da dies zu mehr Abstand führte die dem Hund Sicherheit vermittelte.
Den Vorteil dieser Herangehensweise sehe ich darin, dass es mehr Verständnis schafft für die Ursachen und Konditionen des Verhaltens, dass es überprüfbare Behauptungen gibt die bestehen müssen, und dadurch an den wirklichen Stellschrauben gedreht wird, und man dadurch dem Tier gerechter werden kann. Es wird darüber hinaus in der Mehrzahl der Fälle klar, dass gar keine Erkrankung vorliegt und das unerwünschte Verhalten in Beziehung zur psychosozialen Umwelt besteht, bzw in den Fällen wo eine Krankheit vorliegt, diese Krankheit sehr selten aus heiterem Himmel kommt.
Menschen mit ihren Tieren durchs Leben gehen zu sehen und zu wissen, dass diese stigamatisiert wurden mit einer Diagnose, die oft gar nicht so wirklich passt oder stimmt, oder in Fällen wo eine Störung im Verhalten liegt, dass das Scheinwerferlich auf das Tier gerichtet wird, finde ich sehr bedauerlich und nicht immer Leicht zu (er)tragen. Ich glaube, es ist eine der schlimmeren Dinge die man als Professioneller tun kann, jemanden eine Diagnose an den Kopf zu werden und dann das Gegenüber in diesem Wissen durch die Welt gehen zu lassen. Dafür braucht es für mich schon Substanz.
Da gibt es dann Hunde, denen beständig Dinge weggenommen werden aus (dominanz)-theoretischen Überlegungen heraus, wo das Vertrauen in die Bezugsperson verloren geht und der Hund als dominant abgestempelt wird, oder dass die Besitzer kaum oder kein Verständnis für die Bedürfnisse des Tieres aufbringen und der Hund als hyperaktiv abgestellt wird, obschon er nur mehr kognitive, emotionale und körperliche Betätigung bräuchte und man mehr auf seine Bedürfnisse eingeht.
Dieses Problem gibt es durchaus auch beim Menschen. Kinder die nicht 5h am Tag auf Stühlen in einer Schule sitzen können und dem Aufmerksamkeitsdefizit bezichtigt werden, Menschen die von ihrer sozialen Umwelt belastet werden und die Hoffnung und dann sich aufgeben und sich dann zu suizidieren versuchen und in der Psychiatrie landen, Menschen die am Arbeitsplatz ausgebeutet werden und von klein auf eingetrichtert bekommen dass Leistung sexy sei und danach beurteilt wird, bis diese Menschen dann erschöpft in der Psychiatrie landen.
Diese Psychiatrisierung von gesellschaftlichen Fehlleistungen, die mag ich nicht und es scheint mir dass es sexy wurde, das mit den Haustieren auch zu machen. Ich glaube, dass eine funktionelle Diagnostik dazu beitragen kann, die Verstrickungen zu beleuchten und zu benennen und daran zu arbeiten. Oftmals erlebe ich in meiner Arbeit, dass Verhaltenstherapien
ganz wegfallen, oder deutlich kleiner als vermutet.
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